Tagesspiegel: „Senat führt „Start-Bonus“ ein: Pflegefamilien in Berlin bekommen mehr Geld“

Wir freuen uns als Mitglied im Beirat der Arbeitsgruppe zur Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe in Berlin, dass sich nach über 12 Jahren die Mühen und das unaufhörliche dranbleiben gelohnt hat.

29.08.2024 © Annette Kögel

„Immer mehr Mädchen und Jungen können nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern bleiben. Damit sich mehr Pflegefamilien finden, bietet Berlin jetzt mehr Geld und Unterstützung.

Die Eltern sind zwar willens, aber überfordert, oft alkoholabhängig, psychisch krank oder sie können sich aus anderen Gründen nicht gut um ihre leiblichen Kinder kümmern. Erst recht infolge der Pandemie. Dann springt oftmals der Staat ein: Allein vergangenes Jahr waren 8362 Kinder und Jugendliche stationär untergebracht, etwa in Wohngruppen, und 1979 bei Wahl-Eltern.

Etwa jedes fünfte stationär untergebrachte Kind wird in einer Pflegefamilie groß – doch es braucht mehr. Um die Situation von Pflegefamilien zu verbessern und neue hinzuzugewinnen, erhöht Berlin nun die Pflegepauschalen. Hinzu kommt ein Pilotprojekt, das für neue Pflegeeltern zusätzlich eine Art Elterngeld vorsieht.

Damit die Zahl der Paare oder Alleinerziehenden steigt, die ein „Kind, das einen Rucksack mit sich bringt“ aufnehmen wollen, verbessere Berlin die Bedingungen für Pflegefamilien deutlich, sagte Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) am Donnerstag zur Umsetzung ihres seit Jahren verfolgten Vorhabens.

Ein Kind mit einem Rucksack aufnehmen, das geht nicht mal so nebenbei. Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU)

„Wenn Sie ein Säugling oder kleines Kind mit Beziehungsabbrüchen oder Trauma aufnehmen wollen, und voll berufstätig sind, das geht nicht mal so nebenbei“, sagte Günther-Wünsch. Daher bekommen neu aufnehmende Pflegeeltern jetzt durch das Pilotprojekt „Start-Bonus – Pflegekind“ zusätzlich 924 Euro monatlich.

Pflegefamilien bekommen mehr Geld

Die Senatsjugendverwaltung stellt für 2025 eine Million Euro zur Verfügung, damit möglichst in allen zwölf Bezirken je zehn neue Pflegeeltern den Start-Bonus bekommen können. Damit sollen sie im ersten Jahr der Eingewöhnung und des Bindungsaufbaus die Berufstätigkeit unterbrechen oder stark reduzieren können. Denn in der Anfangszeit sollen Pflegeeltern möglichst ganz zu Hause bleiben. Möglich ist auch, dass bei Paaren nur ein Partner zu Hause bleibt. Der Start-Bonus gilt für Pflegeeltern von Kindern von 0 bis 6 Jahren.

Damit wolle man Interessenten halten, die es sich angesichts der Pflegepauschalen und Berliner Lebenshaltungskosten nicht leisten können, Pflegeeltern zu werden, sagt Kerstin Stappenbeck, Leiterin der verwaltungsinternen Arbeitsgruppe zur Pflegewesenreform.

Grundsätzlich können Alleinerziehende, Paare, Eheleute und gleichgeschlechtliche Lebenspaare Kinder und Jugendliche aus hilfebedürftigen Verhältnissen aufnehmen. Dies geschieht im Auftrag des Jugendamtes und in Kooperation meist mit einem bezirklichen Pflegekinderdienst. Wie viele Pflegekinder ein Haushalt aufnehmen darf, wird im Einzelfall geprüft. Mehr als zwei untergebrachte Kinder pro Familie sind jedoch selten.

Für ihren Einsatz erhalten Pflegeeltern monatliche Pauschalen, die ab September steigen sollen. „Hier können wir die Stagnation seit vielen Jahren endlich beenden“, sagte Jugend- und Familienstaatssekretär Falko Liecke (CDU). Im Doppelhaushalt 2024/25 sind dafür acht Millionen Euro vorgesehen, zwei Millionen ab September 2024 und sechs Millionen von Januar bis Dezember 2025.

Jetzt ist Berlin nicht mehr bundesweit Schlusslicht

Die Familiensenatorin rechnete ein Beispiel vor: Bislang bekam die Pflegefamilie eines fünfjährigen Jungen, der keinen erweiterten Förderbedarf hat, als monatliche Pauschale für den Lebensunterhalt des Kindes 399 Euro, ab September sind es 603 Euro. Zudem erhält die Pflegeperson eine erhöhte Pauschale zur Pflege und Erziehung, 420 statt 300 Euro.

Damit folgt auch Berlin, das bundesweit eine Sonderrolle mit viel weniger Finanzhilfe spielte, den im Bereich Hilfen zur Erziehung maßgeblichen Empfehlungen des Deutschen Vereins. Die Sätze steigen weiter, je nach Altersgruppen.

Durch die erhöhten Pauschalen und den Bonus erhält beispielsweise eine neu aufnehmende Pflegemutter, die sich um ein zweijähriges Kind ohne erweiterten Förderbedarf kümmert und ihre Arbeit ein Jahr ruhen lassen muss, rund 2240 Euro – inklusive Kindergeld und Renten- sowie Versicherungszuschuss. Bei zwei Elternteilen bekommt immer nur ein Elternteil die Leistungen.

Die staatlichen Zahlungen für Pflegeeltern liegen weit unter dem, was ein Platz in einem Heim monatlich kosten kann. Dieser kostet im Schnitt 5000 Euro, teils sogar bis zu 12.000 Euro im Monat pro Kind, wenn besonders intensive therapeutische Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Zusätzlich zu den Pauschalen haben Pflegeeltern in Berlin Anspruch auf Kindergeld, einen kleinen Renten- und Versicherungszuschuss von der wirtschaftlichen Jugendförderung des Jugendamtes, Pflegekinder können Wohngeld beantragen. Der Mietzuschuss in der Lebensunterhaltspauschale betrug vor der Reform unter 100 Euro.

Pflegefamilien haben, anders als Bürgergeldempfänger, keinen Anspruch auf das Bildungs- und Teilhabepaket, zahlen also Klassenfahrten und Schulbücher selbst. Bald sollen die Jugendämter der aufnehmenden, nicht die der abgebenden Familie zuständig sein, das bedeutet weniger Aufwand und Bürokratie.

Zu den neuen Maßnahmen des Senats gehört, dass Pflegeeltern künftig Supervision erhalten können, weil etliche Pflegekinder Bindungsängste, Traumata, Depressionen oder Schulängste mitbringen, unter ADHS oder Schädigungen durch Alkoholkonsum der Mutter in der Schwangerschaft leiden. Für Pflegekinder gibt es eine  neue, unabhängige Beratungsstelle. Ehemalige Pflegekinder, „Careleaver“, unterstützen das Projekt.

Neu sind 35 speziell für Pflegekinder reservierte Plätze beim Zirkustherapie-Projekt „Alegria“ sowie Ferienfreizeiten. Und um die Präsenz der gesellschaftlichen integrativen Arbeit von Pflegefamilien öffentlicher zu machen und zu würdigen, soll es Begrüßungs-, Jubiläums- und Abschiedsveranstaltungen der Senatsverwaltung geben, wie auch eine Kampagne zu Erfolgen der neuen Familienbande. Bald sollen die Jugendämter zuständig sein jenes Bezirks, in dem die Pflegeeltern leben.

 

Hoffen auf neues Zuhause und Zukunft

Auf liebende Eltern oder auch Pflegeeltern hoffen viele Kinder und Jugendliche weiter. Im Jahr 2022 gab es in Berlin 2261 staatliche Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen wegen Kinderschutzes, Konflikten und Krisen. In 753 Fällen gab es eine Rückkehr zu den leiblichen Eltern. 916 Kinder oder Jugendliche wurden in ihr Heim oder in die Pflegefamilie zurückgeführt. 655 kamen neu in die stationäre Unterbringung, also in Wohnheimgruppen oder zu Pflegefamilien.

In der Senatsjugendverwaltung hofft man jetzt darauf, dass die neuen Förderungen im nächsten Jahr rund 120 neue Pflegeeltern in Berlin dazu motivieren, einem Kind oder Jugendlichen, egal welcher Nationalität, ein neues Zuhause und eine bessere Zukunft zu geben.“

Der Artikel erschien hier.